Die Psyche im Widerstandstraining
Im Blogbeitrag Krafttraining vs. Widerstandstraining haben wir davon gesprochen, dass ein Widerstandstraining auf verschiedenen Ebenen wirkt. So auch auf der psychischen Ebene. Es kann in der Praxis dazu kommen, dass der Schwerpunkt des Widerstandstrainings hauptsächlich auf diese Ebene gelegt wird. Solche Situationen hast du bestimmt schon bewusst oder unbewusst erlebt. Mit diesem Blog möchten wir ein beeindruckendes Beispiel aus unserer Praxis teilen:
Fallbeispiel:
Eine 25-jährige Versicherungsangestellte, die seit 10 Jahren an Rückenschmerzen leidet, meldete sich in der Praxis an. Bisher hatte sie immer wieder aktive Physiotherapie und war schon häufig beim Chiropraktiker, allerdings ohne grosse Erfolge. Im Alltag ist sie sehr eingeschränkt. Schuhe oder Hose anziehen macht ihr grosse Mühe und sie muss alles bewusst machen. An schwere Sachen heben, wie zum Beispiel Einkäufe, ist gar nicht erst zu denken. In den letzten Wochen haben die Schmerzen nochmals zugenommen. Zudem wird ihr immer wieder schwindlig vor Schmerz. Aktuell trägt sie ein Korsett, um mehr Stabilität zu haben. Es vergeht kein Tag ohne Schmerzmittel.
Die letzte Untersuchung im Spital wurde abgeschlossen mit:
«Da kann man nichts mehr machen, damit müssen sie leben.»
Die Kundin selbst wollte am liebsten ein drittes MRI. Laut ihr muss doch «etwas kaputt sein». Zudem äusserte die Kundin, dass sie bei «krummen Heben» noch mehr kaputt machen wird und deshalb unter anderem die Spülmaschine nicht von ihr selbst, sondern von ihrer Familie eingeräumt wird.
Überlegung:
In dieser Situation stellt sich die Frage, ob man der Kundin Hinweise darauf gibt, das Heben mit kyphosierter Haltung nicht unbedingt schlecht sein muss – dass die Wirbelsäule dafür gemacht ist, bewegt zu werden. Dies kann allerdings zu so frühem Zeitpunkt dazu führen, dass die Kundin das Gefühl hat, nicht ernstgenommen zu werden. Zudem kann es den Anschein haben, dass man als Fachperson immer alles besser weiss und von oben herab agiert. Dies führt jedoch langfristig nicht immer zu einer guten therapeutischen Beziehung und muss somit individuell betrachtet werden.
Im Zielfindungsgespräch wurde das Bücken als Grundziel von uKiB (unbewusste Körperkontrolle in Bewegung) festgelegt.
Im weiteren Verlauf wurde die Kundin über chronische komplexe Rückenschmerzen aufgeklärt, und wie diese zu Veränderungen nicht nur strukturell am Ort der Schmerzempfindung führen können, sondern auch zentral und der Schmerzverarbeitung.
Um weitere Informationen zu bekommen, ist es natürlich notwendig, sich die Problembewegung anzuschauen. Hierfür wurde direkt zu Beginn ein externer Fokus gesetzt. So wurde eine Faszienrolle vor der Kundin auf den Boden abgestellt. Danach bekam die Kundin den Auftrag, die Faszienrolle einmal aufzuheben. Dies wurde nochmals bewusst mit kyphosierten Rücken vor ihren Augen durchgeführt.
Zum Erstaunen meiner selbst, schaute mich die Kundin erschrocken mit grossen Augen an. Sofort wurde klar, dass etwas nicht stimmte. Auf Nachfragen meinte die Kundin, dass sie schon vom Zusehen selbst Schmerzen im Rücken verspüre. Und sie beim Gedanken daran, dass sie die Faszienrolle gleich aufheben soll, schon schwitzige Hände bekommt. Zudem war sie nicht sicher, ob sie das überhaupt schaffen wird.
Der Kundin wurde Mut zugesprochen: «Ich bin mir sicher, dass du das schaffen wirst.» und versichert, dass nichts kaputt gehen wird. Damit wurde versucht ihr Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit zu steigern. Zudem wurde ihr die Kontrolle übergeben, sie durfte entscheiden, ob sie die Bewegungen ausführen will und auch über einen möglichen Abbruch durfte sie selbst entscheiden.
Die Kundin entschloss sich, die Bewegung auszuführen. Davor fragte sie jedoch noch: «Soll ich es so machen, wie ich es vor Kollegen im Geschäft mache, oder wie ich es zu Hause mache?» Als Unterschied stellte sich heraus, dass sie versucht, im Geschäft vor Kollegen die Schmerzen zu vertuschen und «eleganter» etwas aufheben würde. Dies allein zeigte jedoch schon, dass sie das Bücken zu keiner Zeit unbewusst durchführt.
Die Kundin ging dann mehr oder weniger elegant in die Knie. Den Rücken behielt sie gerade und stütze sich mit den Händen auf den eigenen Oberschenkeln ab. Und trotz vorheriger Zweifel schaffte sie es, die Rolle aufzuheben.

Als sie wieder stand, sah man ihr die Erleichterung regelrecht an. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht. Auf die Frage, wie sie sich aktuell fühlt sagte sie, dass sie erstaunlicherweise wenig Schmerzen aktuell empfindet und es überraschend gut ging.
Die Kundin stellte die Faszienrolle dann wieder auf den Boden und der Ablauf wurde wiederholte. Die zweite Runde ging dabei schon wesentlich schneller und auch schmerzfreier von statten.
Mit diesem Erfolgserlebnis wurde versucht eine weitere Bewegungskomponente zu erschliessen. Und zwar sollte die Kundin mit gestreckten Beinen die Faszienrolle vom Boden aufheben. Eine Beschreibung, dass sie die Rolle somit mit kyphosiertem Rücken heben sollte, wurde bewusst weggelassen. Dieses Problem sollte die Kundin auf ihre eigene Art und Weise lösen, wobei dies der «normale» Lösungsversuch ist – so auch bei der Kundin. Man sah der Bewegung deutlich den Respekt an und auch der zeitliche Ablauf war sehr langsam, doch die Kundin konnte die Bewegung durchführen und war sehr froh zu sehen, dass es überhaupt geht.

Das stellte dann auch das Widerstandstraining für zu Hause dar. Die Kundin sollte eine leere (!) 1,5L Flaschevom Boden aufheben und wieder hinstellen. «Nur» 10-mal am Tag.
Warum «leer» und «nur» 10-mal am Tag? In diesem Widerstandstraining geht es darum Vertrauen zu gewinnen. Das bekommt man nur, wenn Dinge auch funktionieren und nicht, wenn man von Fehlversuch zu Fehlversuch wechselt. Deswegen war das Ziel die Psyche zunächst zu beruhigen und der Kundin zu zeigen, dass sie robust ist. Das ihr Körper sich bewegen kann. Der nächste Termin wurde eine Woche später abgemacht. Nicht jedoch ohne der Kundin die Möglichkeit zu geben, sich jeder Zeit zu melden. Auch damit kann man Sicherheit und Vertrauen generieren und somit ein Umfeld schaffen, in dem das Widerstandstraining ablaufen kann.
Was das jedoch eine Woche später passierte überraschte total. Die Kundin kam und sofort viel auf, dass Etwas anders ist. Sie lächelte, war aufrechter – selbstbewusster und ihr Wochenresumée hatte es in sich:
«Als ich hier rausgegangen bin sagte ich zu mir: F*** it! Wenn das stimmt, was mir erzählt wurde und ich nichts kaputt machen kann und ich mich teilweise überwinden muss, dann kann ich doch quasi alles machen.»
So ging sie nach Hause, räumte die Spülmaschine ein und aus, ohne nur in die Knie zu gehen (Ihre Familienmitglieder kamen um die Ecke und machten sich Sorgen um den Rücken). Sie ist ins Training gegangen und nahm deutlich mehr Gewicht. Sie sass länger, was ihr sonst auch deutlich mehr Schmerzen machte. Sie hat sich nicht mehr von den Schmerzen leiten lassen.
Hatte sie weiter Schmerzen? Ja!
Aber das Widerstandtraining hat auf Ebene der Psyche dazu geführt, dass die Kundin ein Stücken unbewusster durch das Leben gehen kann; dass sie mehr Kontrolle über die Bewegung hat. Und viel wichtiger: Das sie sicher mehr zutraut und mehr Lebensfreude hat.
War die Gefahr da, dass sie zu viel Last auf sich nimmt und eventuell negativ im Sinne von mit mehr Schmerzen reagieren würde? Ja, die Gefahr war da. Und manchmal bewirken die Worte mehr als man sich erhofft.
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