Missverständnis Rumpfstabilität
Eine neue Mitarbeiterin hat gerade im Training einen Kunden bei einer Kabelzugübung darauf hingewiesen, dass er den Bauchnabel fest zur Wirbelsäule ziehen muss!
WARUM??? Warum sollte jemand im Trainining den Bauchnabel zur Wirbelsäule ziehen?
Wird die Stabilität dadurch verbessert? Nein! Sie wird nicht besser durch Baucheinziehen oder den Nabel zur Wirbelsäule ziehen (Grenier SG, 2007; McGill SM, 2016; Vera-Garcia FJ, 2007). Das wurde von Wissenschaftlern eigentlich auch nie behauptet. Also den Bauch einziehen während einer Kniebeuge macht ihre LWS nicht stabilier. Es ging bei den therapeutischen Motor Control Exercise (MCE) Übungen immer um die Verbesserung der frühzeitigen Aktivierung (Richardson CA & Jull GA, 1995; Richardson CA, Hodges PW & Hides J, 2009) Das wurde missverstanden.
Es wurde bei den Transversus abdominis (TvA) Studien auch nicht gemessen, dass die Wirbelsäule tatsächlich instabil ist (Reeves NP, 2019).
Den Bauch anspannen - nicht einziehen - würde eigentlich stabiler machen (Vera-Garcia FJ, 2007). Das ist aber nicht gut oder besser. Den Bauch bewusst anzuspannen verändert die Körperkontrolle. Zum Beispiel beim Landen nach Sprüngen wirken durch Anspannen der Bauchmuskeln höhere Bodenreaktionskräfte auf den Körper (Campbell A, 2016). Die Körperkontrolle verschlechtert sich bei Balanceaufgaben (Reeves NP, 2006).
Der TvA wirkt auch nicht als Ganzes wie ein Korsett. Der kontralaterale TvA hat ein anderes Aktivierungsmuster als der ipsilaterale TvA (Allison GT, 2008; Morris SL, 2013).
Quint (1998) schreibt: "Die neuralen Kontrolleure (ZNS) müssen nicht nur die richtigen Muskeln auswählen, sondern auch das angemessene Aktivitätslevel bestimmen". Angemessen heisst genau richtig. Nicht zu wenig aber auch nicht zu viel! Den Bauchnabel konstant zur Wirbelsäule ziehen ist nicht angemessen und stört das zentrale Nervensystem bei seinen Kontrollaufgaben.
Das ZNS ist ein sehr anpassungsfähiges Kontrollsystem. Es verändert die Wirbelsäulenkontrolle je nach Instruktion der Übung, den visuellen Informationen, den Störungen, der Geschwindigkeit und veränderten Aufgaben (Reeves NP, 2019). Es ist nicht einfach immer nur der Bauch. Es sind immer andere Muskeln mit verschiedener Intensität beteiligt. Es ist komplex. (Carpenter MG, 2008; Tokuno CD, 2011; Urquhart DM, 2004)
Bewegung bedeutet nicht Instabilität. Dämpfende Bewegung ist für die Wirbelsäule wichtig. Beim Gehen und Joggen verändert sich die Krümmung der Lendenwirbelsäule mit jedem Schritt. Die Lordose wird grösser, um den Aufprall zu dämpfen. (Helliwell PS, 1989; Castillo ER, 2018). Es sind nicht nur die Bandscheiben - es ist dämpfende Bewegung. Eine steife Wirbelsäule verhält sich wie ein fester Stab und ist daher nicht fähig Belastungen zu kontrollieren (Helliwell PS, 1989). Ein gerader, steifer Rücken ist nicht automatisch ein stabiler Rücken (Mok NW, 2007).
(Stabilität ist eine Gleichgewichtslage. Sie beinhaltet Bewegung, sonst wäre es Festigkeit. Neben dem Begriff Stabilität könnte man auch gut über den Begriff Rumpf diskutieren. Wo ist er den genau, der Rumpf?)
Und wenn durch die MCE der Feedforward verbessert wird, WARUM sollte man im Alltag und beim Training den Bauch noch bewusst anspannen??? Gesunde machen das auch nicht. Ausser sie wurden von der Rumpfstabi-Industrie dazu verleitet.
Den seit den 90er Jahren hat sich eine richtige Rumpfstabi-Industrie mit grosser Glaubensgemeinschaft entwickelt (Jakobson Ramin C, 2017). Die Verbesserung der Rumpfstabilität ist DIE Empfehlung bei Rückenschmerzen. Viel Zeit und Energie wird beim Rumpfstabilitätstraining mit Kunden verschwendet. Dies weil Stabilität im Zusammenhang mit dem komplexen System Mensch leicht missverstanden werden kann:
Junge Sportler sind stolz, dass sie den Plank mehr schlecht als recht drei Minuten lange durchführen können. Sie können aber nicht landen und springen oder eine vernünftige Kniebeuge ausführen. Aber alles ist gut, sie machen ja Rumpfstabi jeden Abend vor dem TV.
Trotz all der gut gemeinten Rumpfstabilitäts-Ratschlägen sind Rückenschmerzen immer noch der häufigste und zunehmende muskuloskeletale Grund für eine therapeutische Behandlung (Cieza A, 2020).
Sie können MCE-Übungen weiterhin durchführen, aber nach der wissenschaftlichen Lage müssen sie nicht. Sie wirken bei Rückenschmerzen langfristig genau so gut wie alles andere. Nicht besser und nicht schlechter. Dies zeigen mehrere Übersichtarbeiten (Foster NE, 2018; Saragiotto BT, 2016; Smith BE, 2014). Aber was bewirkt das ständige Baucheinziehen? Veränderte Atmung, Bewegungsangst, Verspannungen?
Übungen am Kabelzug, wie am Anfang erwähnt, sind in der Regel sehr gute Körperkontrollübungen (McGill SM, 2009). Der "Rumpf" wird dabei in der Kette trainiert. Wenn die unbewusste Körperkontrolle dabei nicht optimal ist, passen sie die Intensität an, ändern sie die Übung oder stellen sie eine andere Aufgabe. Legen sie zum Beispiel einen Jonglierball auf den Kopf des Trainierenden und der darf nicht herunterfallen. Sehen sie, wie sich die Körperkontrolle sofort und automatisch verändert! Ohne bewusstes Baucheinziehen. Es geht um unbewusste Körperkontrolle in Bewegung - uKiB!
Sagen sie ab heute nie wieder das der Bauch / der Nabel eingezogen werden soll, um stabilerer im Alltag und Sport zu sein. Es stimmt nicht!
PS
Das Baucheinziehen wurde 2019 an einem Workshop in Zürich von Paul Hodges so instruiert:
„Ziehen sie langsam den unteren Bauch vom Hosenbund weg.„
Oder: „Ziehen sie langsam den Bauch ein, so dass er unterhalb des Bauchnabels flach wird.“
Also stimmt die eingangs erwähnte Instruktion so oder so nicht.
Literatur:
Allison GT, Morris SL & Lay B. (2008) Feedforward responses of transversus abdominis are directionally specific and act asymmetrically: implications for core stability theories. JOSPT 38(5) 228-237 https://doi.org/10.2519/jospt.2008.2703
Campbell A, Kemp-Smith K, O'Sullivan P & Straker L. (2016) Abdominal bracing increases gro&reaction forces and reduces knee and hip flexion during landing. J Orthop Sports Phys Ther 46(4):286-92 https://doi.org/10.2519/jospt.2016.5774
Carpenter MG, Tokuno CDE, Thorstensson A & Cresswell AG. (2008) Differential control of abdominal muscles during multi-directional support-surface translations in man. Exp Brain Res 188:445-455 https://doi.org/10.1007/s00221-008-1377-x
Castillo ER & Lieberman DE. (2018) Shock attenuation in the human lumbar spine during walking and running. Journal of Experimental Biology https://doi.org/10.1242/jeb.177949
Cieza A, Causey K, Kamenov K, Wulf Hanson S, Chatterji S & Vos T (2020). Global estimates of the need for rehabilitation based on the global burden of disease study 2019: a systematic analysis for the global burden of disease study 2019. The Lancet 396, 10267, 2006-2017.
https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32340-0
Foster NE, Anema JR, Cherkin D, Chou R, Cohen SP, Gross DP, Ferreira PH, Fritz JM, Koes BW, Peul W, Turner JA & Maher CG. (2018) Prevention and treatment of low back pain: evidene, challenges, and promising directions. The Lancet https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)30489-6
Grenier SG & McGill SM. (2007) Quantification of lumbar stability by using 2 different abdominal activation strategies. Arch Phys Med Rehabil Vol 88
https://doi.org/10.1016/j.apmr.2006.10.014
Helliwell PS, Smeathers JE & Wright V. (1989) Shock absorption by the spinal column in normals and in ankylosing spondylitis.
https://doi.org/10.1243/PIME_PROC_1989_203_037_01
Jakobson Ramin C. (2017) Crooked - Outwitting the back pain industry and getting on the road to recovery. New York: HarperCollinsPublishers https://www.cathrynjakobsonramin.com/books/crooked/overview
Lederman E. (2010) The myth of core stability. J Bodywork Move Therap 14:84-98 https://doi.org/10.1016/j.jbmt.2009.08.001
Mok NW, Brauer SG & Hodges PW. (2007) Failure to use movement in postural strategies leads to increased spinal displacement in low back pain. Spine 32: 537-543 https://doi.org/10.1097/BRS.0b013e31814541a2
Morris SL, Lay B & Allison GT. (2013) Transversus abdominis is part of a global not local muscle synergy during arm movement. Human Movement Science https://doi.org/10.1016/j.humov.2012.12.011
McGill SM. (2016) Low Back Disorders, Third Edition. Human Kinetics https://www.backfitpro.com/books/
McGill SM, Karpowicz A, Fenwick CMJ & Brown SHM. (2009) Exercises for the torso performed in a standing posture: spine and hip motion and motor patterns and spine load. J Strength Cond Res. 23(2):455-64
Quint U, Wilke HJ, Shirazi-Adl A, Parnianpour M, Löer F & Claes LE.(1998) Importance of the intersegmental trunk muscles for the stability of the lumbar spine. Spine 23 (18) 1937:1945 https://doi.org/10.1097/00007632-199809150-00003
Reeves NP, Everding VQ, Cholewicki J & Morrisette DC. (2006) The effects of trunk stiffness on postural control during unstable seated balance Exp Brain Res 174:694-700 https://doi.org/10.1007/s00221-006-0516-5
Reeves NP, Cholewicki J, van Dieen JH, Kawchuk G & Hodges PW. (2019) Are stability and instability relevant concepts for back pain? JOSPT 49(6): 415-424 https://doi.org/10.2519/jospt.2019.8144
Richardson CA & Jull GA. (1995) Muscle control - pain control. What exercises would you prescribe? Man Ther 1 (1):2-10
https://doi.org/10.1054/math.1995.0243
Richardson CA, Hodges PW & Hides J. (2009) Segmentale Stabilisation im LWS- &Beckenbereich. München: Elsevier GmbH
Saragiotto BT, Maher CG, Yamato TP, Costa LOP, Menezes Costa LC, Ostelo RWJG & Macedo LG. (2016) Motor control exercise for nonspecific low back pain: a Cochrane review.
Spine 15;41(16):1284-1295 https://doi.org/10.1097/BRS.0000000000001645
Smith BE, Littlewood C & May S. (2014) An update of stabilisation exercises for low back pain: a systematic review with meta-analysis. BMC Musculoskeletal Disorders https://doi.org/10.1186/1471-2474-15-416
Tokuno CD, Cressell AG, Thorstensson & Carpenter MG. (2011) Recruitment order of the abdominal muscles varies with postural task. Scand J Med Sci Sports https://doi.org/10.1111/j.1600-0838.2011.01394.x
Urquhart DM, Hodges PW & Story IH. (2004) Postural activity of the abdominal muscles varies between regions of these muscles and between body positions. https://doi.org/10.1016/j.gaitpost.2004.09.012
Vera-Garcia FJ, Elvira JLL, Brown SHM & McGill SM. (2007) Effects of abdominal stabilization maneuvers on the control of spine motion and stability against sudden trunk perturbations.
https://doi.org/10.1016/j.jelekin.2006.07.004
Danke für diesen Artikel, spricht mir aus der Seele!